Jörg Vester

Vorübergehende Erlebnisse in der Zeit

Wochenendauflug

4. Juni 1996

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Dr. Jürgen Pech zur Ausstellung Wochenendausflug (25.05.-02.06.1996) auf Schloß Augustusburg: „Als vor knapp 33 Jahren – im rheinischen Brühl müßte es heißen ‘als vor knapp 3 mal 11 Jahren’ – einer der wichtigsten Künstler der Klassischen Moderne einen Ehrenpreis bekam, bedankte er sich mit dem Zusatz: „ … und ich bekomme vor mir selber Respekt.“

Seine ironische Brechung von Ehrfurcht jeglicher Art erzählte und beschrieb er in seiner Dankesrede mit dem ihm eigenen rheinischen Tonfall am Beispiel des eigenen Metiers: „Ein Künstler hat nur eine einzige Aufgabe im Leben, sich selber nie zu überschätzen, sich selber nie zu ernst zu nehmen und sich selber immer darüber klar zu bleiben, wieweit sein ‘Verdienst’ reicht! Dazu gibt es eine einzige gute Methode, nach meiner Ansicht, er muß versuchen, sich nicht zu finden. Ein Künstler, der seine Laufbahn gefunden hat und der sich selber gefunden hat, ist – verloren! Mir ist es wahrscheinlich gelungen, das, was ich getan habe, sofort wieder am nächsten Tag zu vergessen und auf diese Weise eine gewisse Frische erhalten zu haben. Frische oder sogar was man auch ein kindliches Gemüt nennen könnte.

Schloss Brühl, Innenansicht Installation, 1996

Das haben schon Leute wie Ludwig XIV. verstanden. Als man ihm zum Beispiel den Plan für ein Schloß, das er seinen Architekten in Auftrag gegeben hatte, vorlegte, da hat er sich die Pläne angesehen und hat gesagt: ‘Ja, die sind ja ganz gut, aber, die sind, da fehlt etwas Kindliches darin. Nehmen Sie die Pläne zurück und bringen Sie etwas Kindlichkeit hinein.’ “ Diese Kindlichkeit, eine zweite, bewußte Kindlichkeit mit dem Aspekt des ungezwungenen Spiels oder der spielerischen Freiheit waren für den Künstler ein Kriterium des Kreativen und der Inspiration, der Denkweise und der Weltsicht. Gleichzeitig verwebte dieser Künstler anspielungsreich das in klassisch gemäßigtem Barock erbaute Schloß des Sonnenkönigs in Versailles mit dem Brühler Schloß Augustusburg, der Sommerresidenz des Kurfürsten Clemens August, das nahe seines Geburtshauses steht.

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Die so beschriebene spielerische Freiheit, aber auch eine Beschäftigung mit der Architektur und der Gartenanlage des spätbarocken Schlosses zeichnet die Raum-Arbeit aus, die hier in der Orangerie zu sehen ist. Der 1963 geborene Maler Jörg Vester, der an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Prof. Gerhard Richter und bei Prof. Dieter Krieg stu-diert hatte, verbrachte Anfang letztes Jahres anläßlich eines vom Deutsch-Französischen Kulturrat geförderten Projektes einige Monate in Frankreich. Wie mir Jörg Vester in seinem Düsseldorfer Atelier erzählte, wurde er während dieses Aufenthaltes fast magisch von einem Alltagsgegenstand angezogen. Bei diesem banalen Gebrauchsgegenstand handelte es sich um eine durchlöcherte Gummimatte im Spülstein.

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Er durchschnitt die regelmäßige Anordnung der Gummikreise und war von der entstehenden Formvielfalt fasziniert, deren Möglichkeiten er in ersten kleinformatigen Skizzen studierte. Durch die fließenden Übergänge des zerschnittenen Materials drängte sich für Jörg Vester die Assoziation zu den ornamentalen Gestaltungselementen des Barock auf und die Idee zu einer Annäherung, das heißt zu einer Ausstellung in der Orangerie entstand. Der Werkprozeß ist dabei von einer befreienden Metamorphose, von einer ständigen Verwandlung bestimmt. Der malerische Sprung geht vom Gegenständlichen zum Ungegenständlichen, von der Narration zur Abstraktion, und während der Beschäftigung mit der Raumarbeit befreite sich Jörg Vester auch vom gerahmten Tafelbild.

Die 22 fahnenartig langgestreckten Bilder, die Jörg Vester nun für die Ausstellung herstellte, können als Roll-Bilder charakterisiert werden, und das in zweifacher Hinsicht.

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Einerseits entstanden die kurvigen Motive durch Verwendung von Gummi- und Hartschaumrollen, mit denen Jörg Vester Acrylfarbe in einem raschen Arbeitsprozeß auf-trug. Dieses automatisierte Vorgehen mit einer Farbe, die rasch trocknet, ist für Jörg Vester eminent wichtig; es ist, wie er mir gegenüber in einem Gespräch äußerte, „schneller als man denken kann“. Anschließend überarbeitete er die kalligraphisch anmutenden Rollspuren mit Ölfarben, um neben einer Bildräumlichkeit durch Brüche und Schichtungen ein komplexes Bildsystem der malerischen Oberfläche zu erzeugen.

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Andererseits rollen die von einer Rahmung befreiten Papierbahnen in den Raum hinein. Die Ränder sind gewellt und die Bildobjekte erhalten dadurch eine Rhythmisierung, die Jörg Vester sowohl durch die Anordnung von Farbklängen als auch durch die Grup-pierung seiner 9 großen sowie 13 kleinen Roll-Bilder verstärkt und im Sinne einer barocken Opulenz stimmig potenziert. An den Wandflächen zwischen den zwölf großen, rundbogigen Fenstern zur Schloßstraße bzw. Türen zum ‘jardin secret’ hin wechseln sich drei Dreiergruppen aus langen Rollbildern mit kürzeren Bildbahnen ab, deren Anzahl gestaffelt ist und mit der Raumtiefe zunimmt.

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Läßt sich die Entstehung dieser Raumarbeit als malerische Metarmorphose beschreiben, so ist das Resultat mit seiner Gestaltungs- und Präsentationsform für die Besucher ein transitorisches Erlebnis. Erst mit der Zeit erschließt sich die Bildwelt von Jörg Vesters Malerei mit seiner Fülle an barocken Farbklängen, mit seinen Kurven, Über-schneidungen und Staffelungen sowie mit seinen Schichtungen und Brüchen. Die Besucher der langgestreckten, hohen Orangerie erleben vorübergehend eine Bild-, Farb- und Formfülle. Sie bleibt in Erinnerung und kann mit der Erfahrung der ornamentalen Gestaltung der Gartenanlage in Beziehung gesetzt werden. Auch auf dieser Ebene der Rezeption spielt Jörg Vester mit dem barocken Ambiente. Denn die geometrische Ordnung der Natur sollte aus dem Hauptbau, dem Schloß, weniger einen Ausgangspunkt, als vielmehr einen Durchgangspunkt von Weltkräften machen; unter diesem Gesichtspunkt des Transistorischen verstand das barocke Lebensgefühl auch den Ablauf der Lebenszeit sowie den Wechsel des Wetters, von Tages- und Jahreszeiten.

Wenn Jörg Vester uns alle nun zu einem Wochenendausflug einlädt, so ist dies ebenfalls als ein vorübergehendes Erlebnis in der Zeit gemeint, von Zuhause zum Erlebnis, vom Alltag zur Kunst.“

Orangerie Schloss Augustusburg, Brühl